EU als einflussreicher internationaler Akteur
Angesichts solcher Entwicklungen scheint es fast müßig darüber nachzudenken – wie es die Heinrich-Böll-Stiftung letztes Jahr getan und in einer Studie veröffentlich hat – wie die EU ein einflussreicher internationaler Akteur werden kann, und zwar sowohl im wohlverstandenen Eigeninteresse, als auch, um europäische Werte wie Rechtstaatlichkeit, Menschenrechte und Demokratie in einer immer mehr auf Interessensicherung bedachten Welt, in der die großen Mächte dominieren, zu verteidigen.
So schön es klingt, dass Europa in ebendieser Welt zusammen stehen und gemeinsam auftreten sollte, so weit ist dies oft von der Realität entfernt, und zwar nicht nur, wenn es um außen- und sicherheitspolitische Entscheidungen geht (siehe z.B. die Uneinigkeit Europas beim Einsatz in Libyen), sondern auch, wenn es um handels- oder energiepolitische Interessen geht. Gerade Deutschland wird hier oft bezichtigt, Alleingänge vor allem mit China und Russland zu machen.
Doppeldeutige Rolle Deutschlands
In der Tat ist die Rolle Deutschlands in Europa in der letzten Zeit doppeldeutig geworden: Zum einen scheint Deutschland aus Europa herauszuwachsen; zumindest verhandelt es seine Stellung innerhalb der EU neu. Das Machtgefüge innerhalb der EU hat sich durch die Eurokrise eindeutig zugunsten Deutschlands verschoben – was Deutschland allerdings nicht unbedingt gut tut. Durch die deutsche Dominanz bei den wirtschaftspolitischen Entscheidungen innerhalb der Eurozone wurden u.a. die europäischen Institutionen geschwächt, zum Bespiel beim Fiskalpakt. Das hat den europäischen Zusammenhalt nicht befördert, im Gegenteil: Deutschland hat sich dabei den Ruf eines „Einpeitschers“ erworben, der den anderen EU-Staaten seine wirtschaftspolitischen Überzeugungen aufdrückt.
Zum anderen, so wird inzwischen argumentiert, scheint Deutschland Ambitionen zu haben, selbst im Konzert der neuen BRIC-Mächte mitzuspielen. Damit orientiert sich Deutschland nach Osten, und versucht, sich global neu aufzustellen. Hier stellt sich die Frage, inwieweit dies mit einer europäischen Führungsrolle Deutschlands vereinbar ist, oder ob Deutschland riskiert, zwischen der politischen Notwendigkeit Europas und seinen globalen ökonomischen Interessen zerrieben zu werden. Es mag wie eine vielversprechende Doppelstrategie klingen, europäische Integration zu betreiben und gleichzeitig eine globale Strategie nicht zu lassen. Es könnte aber auch dazu führen, dass man sich verzettelt, weil man den Fokus nicht klar hat und die Energien nicht bündelt.
Sinnvoll für Europa wäre es, Deutschlands ökonomische Macht und Europas politisches Gewicht zusammenzuführen. Dies indes kann nicht gelingen, wenn innerhalb der EU die Konkurrenz sowohl um Handels- oder Leistungsbilanzen als auch Energie und Ressourcen befördert wird. Handelsbilanzdefizite werden auch nicht zwischen Ohio und Kalifornien oder zwischen dem Saarland und Hessen gemessen. Ökonomische Integration und damit politische Macht können nur dann gelingen, wenn sich Europa, genauer: Euroland, zunehmend als eine zusammenhängende Volkswirtschaft verstehen würde, die ihr Potential gemeinsam ausschöpft. Dazu gehören würde die Einführung von Eurobonds sowie einer Finanztransaktionssteuer, um der EU Eigenmittel zu verschaffen; ferner die Schaffung eines europäischen Solidargefühls, das es ermöglichen würde, anstatt zwischen wirtschaftlich starken und schwachen Staaten (Deutschland vs. Griechenland) zwischen wirtschaftlich starken und schwachen Regionen (Toskana vs. Mecklenburg-Vorpommern) zu unterscheiden. Eine europäische Arbeitslosenversicherung könnte z.B. ein solches Instrument sein, das im Übrigen auch identitätsstiftend für die europäischen Bürger wirken könnte.
Ein europäisches Solidargefühl
Zu erreichen wären solche Ziele aber nur, wenn sich der politische Kern Europas, also insbesondere Deutschland – zusammen mit Frankreich – zu solchen Zielsetzungen bekennen würde. Ob zwischen dem neugewählten französischen Präsidenten François Hollande und Angela Merkel ein solcher neuer Elan für ein wirklich geeintes und starkes Europa entstehen kann oder ob die Desintegration- und Renationalisierungstendenzen weiter zunehmen, ist genau jetzt die historische Frage.
Klar ist aber: wenn die ökonomische Einheit Europas durch eine erneuerte Euro-governance, eine europäische Wirtschaftsregierung, nicht gelingt, wird die internationale politische Macht und Durchsetzungsfähigkeit Europas auf der Strecke bleiben, zum Schaden aller Staaten in Europa, auch Deutschlands!
Deutschland: Schuld am Scheitern des Euros?
Wenn Europa auseinanderfallen sollte, wird man sich zwar an die wirtschaftliche Korruption der Griechen erinnern. Aber die eigentliche Schuld in den Geschichtsbüchern für das Scheitern des Euros wird wahrscheinlich Deutschland zugesprochen werden: der Fisch, so sagt man, stinkt immer vom Kopf. Das Kraftzentrum der EU war und ist Deutschland, heute mehr denn je zuvor. Wenn Deutschland beherzt und energisch Europa nicht nur retten, sondern mit strategischer Weitsicht in eine globale Führungsrolle hätte führen wollen, dann hätten der Impuls und die Energie dafür von Berlin ausgehen müssen und zwar in anderer und viel konsequenterer Art, als es in den letzten beiden Jahren sichtbar wurde. Dazu hätte ein bisschen mehr wirtschaftliche Großzügigkeit gegenüber Griechenland und anderen südeuropäischen Ländern sowie ein bisschen weniger politische Rechthaberei gehört. Vielleicht ist dies immer noch möglich. Aber die Zeit hierfür wird eng, sehr eng!
Ulrike Guérot, European Council on Foreign Relations
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